Das Gänsekind Martina

Konrad Lorenz

 

 

Heute war der grosse Tag. Neunundzwanzig Tage lang Hatte ich auf meinen zwanzig kostbaren Wildganseiern gebrütet. Das heisst, selbst gebrütet hatte ich nur die letzten zwei Tage, die vorher hatte ich mich auf eine dicke, weisse Hausgans und eine ebenso dicke und weisse Truthenne verlassen, die das viel lieber und sachgemässer taten als ich. Erst für die beiden letzten Tage also hatte ich der Truthenne die zehn mattweissen Eier weggenommen und in meinen Brutapparat gelegt. (Die Hausgans musste mit ihren zehn selbst fertig werden.) Ich wollte nämlich das Schlüpfen der Kinder genau überwachen. Und nun war es soweit.

 

Wichtige Dinge müssen in so einem Wildgansei vor sich gehen. Legt man das Ohr daran, hört man es drinnen knacken und murksen, und jetzt, ja jetzt hörst du ganz deutlich ein leises, süss flötendes „Piep“. Erst eine Stunde später hat das Ei ein Loch, und in diesem Loch sieht man das Erste, was vom neuen Vogel zu sehen ist: die Nasenspitze mit dem daraufsitzenden Eizahn. Die Bewegung des Kopfes, mit welcher der Eizahn von innen her gegen die Eihülle gedrückt wird, bewirkt nicht nur ein Aufknacken der Schale, sondern hat auch eine Bewegung des zusammengerollt darin liegenden Vögelchens zur Folge, das sich auf diese Weise langsam und ruckweise um die Längsachse des Eies dreht. Der Eizahn bewegt sich also auf einem „Parallelkreise“ innen an der Eischale entlang und bricht auf dieser Linie eine zusammenhängende Reihe von Lücken, bis schliesslich, wenn der Kreis geschlossen ist, das ganze stumpfe Ende der Eischale von einer Streckbewegung des Halses abgehoben werden kann.

 

Mühselig und langsam befreit sich der lange Hals, der das schwere Köpfchen noch nicht frei zu tragen vermag. Noch bleibt auch der Nacken steif abwärts gekrümmt in der embryonalen Stellung, in der er entstanden ist und die er innegehabt hat, seit er Oberhaupt existierte. Weitere Stunden dauert es, bis die Gelenke sich strecken und geschmeidig werden, die Muskel erstarken und die Organe des Labyrinths funktionieren, die das Gleichgewicht erhalten, bis es für die kleine Gans erstmalig ein Oben und Unten gibt und das Kind seinen Kopf frei und aufrecht tragen kann.

 

Das nasse Etwas, das hier aus der Schale kriecht, sieht unglaublich hässlich und geradezu bedauernswert aus, vor allem aber nässer, als es wirklich ist. Fühlt man es nämlich an, so spürt man es nur feucht. Der Eindruck, das armselige Federkleidchen sei nass und verklebt, entsteht dadurch, dass jede Daunenfeder noch eng zusammengefaltet in einer hauchdünnen Hülle steckt. Sie ist in dieser Form nicht dicker als ein Haar. Alle diese Feder-Härchen aber sind untereinander von der eiweissreichen Flüssigkeit der Eihülle zu Strähnen zusammengeklebt, so dass sie in der Eihülle ein Mindestmass an Raum einnehmen. Trocknen diese Federhüllen, zerfallen sie zu Staub und geben die eingeschlossenen Daunen frei. Diese selbst trocknen also genaugenommen nicht, sie sind von vornherein trocken, da die Hüllen sie umschliessen und so gegen die Flüssigkeit des Eies schützen. Das Platzen der Federhülsen wird natürlich durch die Bewegungen des frisch geschlüpften Jungvogels gefördert und beschleunigt, der sich „gegen den Strich“ an Geschwistern und dem Bauchgefieder der brütenden Mutter reibt. Fehlt diese Reibung, wie bei meiner ersten, im Brutkasten geschlüpften Graugans, bleiben die Federhülsen länger als gewöhnlich erhalten. In einem solchen Falle kann man ein überraschendes kleines Zauberkunststück vorführen. Man nimmt das Vögelchen in die eine, einen geretteten Wattebauschen in die andere Hand und streicht nun sanft mit der Watte gegen den Federstrich über den Jungvogel hin. Dabei zerfallen die brüchigen Federhülsen in feinste, Haarschuppen ähnliche Teilchen, das Gänschen aber verwandelt sich in zauberhafter Weise: wo der Wattebauschen entlangstreicht, steht ein dichter Wald duftig feiner, goldig graugrüner Daunen auf, und in wenigen Sekunden hat man statt des nackten, feucht verklebten, kleinen Untiers einen süssen runden Daunenball in Händen, der gut doppelt so voluminös ist als vorher.

 

Meine erste kleine Graugans war also auf der Welt, und ich wartete, bis sie unterm elektrischen Heizkissen, das den wärmenden Bauch der Mama ersetzen musste, so weit erstarkt war, dass sie den Kopf aufrecht zu tragen und ein paar Schrittchen zu gehen imstande war.

 

Den Kopf schief gestellt, sah sie mit grossem, dunklem Auge zu mir empor. Mit einem Auge, denn wie die meisten Vögel fixiert auch die Graugans, will sie etwas ganz genau sehen, einäugig. Lange, sehr lange sah mich nun das Gänsekind an. Und als ich eine Bewegung machte und ein kurzes Wort sprach, löste sich mit einem Male die gespannte Aufmerksamkeit, und die winzige Gans grüsste: mit weit vorgestrecktem Hals und durchgedrücktem Nacken sagte sie sehr schnell und vielsilbig den graugänsischen Stimmfühlungslaut, der beim kleinen Küken wie ein feines, eifriges Wispern klingt. Sie grüsste genau, aber schon haargenau, wie eine erwachsene Graugans und wie sie es noch tausende Male in ihrem Leben tun wird. Sie grüsste aber auch so, als hätte sie schon tausendmal in genau derselben Weise gegrüsst. Selbst der beste Kenner dieser Zeremonie hätte ihr nicht ansehen können, dass sie es soeben zum allerersten Male in ihrem Gänseleben tat. Noch wusste ich nicht, welch schwere Verpflichtungen ich damit auf mich genommen hatte, dass ich der Musterung des dunklen Äugleins standgehalten und mit einem unbedachten Wort die erste Begrüssungszeremonie ausgelöst hatte.

 

Ich wollte nämlich die von der Truthenne ausgebrüteten Gänseküken nach dem Schlüpfen der erwähnten Hausgans anvertrauen, die zwar nur zehn Eier ausbrüten, aber sehr wohl zwanzig Gänschen führen konnte. Als mein Küken „fertig“ war, waren eben unter der Hausgans drei weitere geschlüpft. Ich trug mein Kind in den Garten, wo die dicke Weisse in der Hundehütte sass, aus der sie den rechtmässigen Besitzer, Wolf i den Ersten, rücksichtslos vertrieben hatte. Ich steckte mein Gänsekind tief unter den weichen, warmen Bauch der Alten und war überzeugt, das Meinige getan zu haben. Aber da blieb wohl noch viel zu lernen.

 

Es dauerte ein paar Minuten, während deren ich in beglückter Meditation vor dem Gänsenest sitzen blieb, da ertönte unter der Weissen hervor, wie fragend, ein leises Wispern: Wiwiwiwiwi? Sachlich und beruhigend antwortete die alte Gans mit demselben Stimmfühlungslaut, nur in ihrer Tonlage: gangangangang. Doch anstatt sich daraufhin zu beruhigen, wie jedes vernünftige Gänsekind getan hätte, kam meines rasch unter dem wärmenden Gefieder hervorgekrochen, sah mit einem Auge empor, der Pflegemutter ins Gesicht und – lief laut weinend von ihr weg: pfühp . . pfühp. . pfühp . . So etwa klingt das „Pfeifen des Verlassenseins“ der kleinen Graugans, das allen Jungen nestflüchtender Vögel in irgendeiner Form zu eigen ist.

 

Hoch aufgerichtet, ununterbrochen laut pfeifend stand das arme Kind auf halbem Wege zwischen der Gans und mir. Da machte ich eine kleine Bewegung – und schon war das Weinen gestillt, und das Kind kam, mit lang vorgestrecktem Halse, eifrigst grüssend auf mich zu: wiwiwiwiwi . .  Das war gewiss rührend, aber ich hatte nicht die Absicht, Gänsemutter zu spielen. Ich packte also das Kind, steckte es wieder tief unter den Bauch der Alten und lief davon. Ich kam keine zehn Schritte weit, da hörte ich schon hinter mir: pfühp . . pfühp . . pfühp . ., und das arme Kind kam verzweifelt gelaufen. Stehen konnte es noch nicht, nur auf den Fersen sitzen, auch bei langsamem Gehen war es noch recht unsicher und wackelig. Aber unter dem Druck der Not hatte es doch schon die Bewegungsweise des schussartigen, sehr schnellen Laufens in seiner Gewalt. Bei manchen Hühnervögeln ist dieselbe merkwürdige und doch zweckmässige Reihenfolge im Heranreifen verschiedener Bewegungsweisen noch ausgesprochener. Vor allem kleine Rebhühner und Fasane können viel früher laufen als langsam gehen oder still stehen.

 

Es hätte einen Stein rühren können, wie das arme Kind mit überschnappendem Stimmchen weinend hinter mir herkam, stolpernd und sich überkugelnd, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit und einer Entschlossenheit, deren Bedeutung nicht misszuverstehen war: ich, nicht die weisse Hausgans, sei ihm Mutter! Seufzend schulterte ich mein Kreuzchen und trug es ins Haus zurück. Obwohl es damals nur hundert Gramm wog, wusste ich sehr genau, wie schwer es zu tragen sein würde, wie viel ehrliche Arbeit und wieviel Zeit es kosten würde, es würdig zu tragen.

 

Ich tat, als hätte ich die kleine Gans adoptiert, nicht sie mich. Das Gänsekind erhielt in feierlicher Taufe den Namen Martina.

 

Der Rest des Tages verging mir, wie er eben einer Gänsemutter zu vergehen pflegt. Wir gingen auf eine Wiese zartes junges Gras weiden, und es gelang mir, mein Kind davon zu überzeugen, dass gehacktes Ei mit Brennesseln ein gutes Essen ist. Und dem Kinde seinerseits gelang es, mir überzeugend beizubringen, dass es, wenigstens vorläufig, völlig ausgeschlossen sei, auch nur eine Minute von ihm wegzugehen und es allein zu lassen. Es geriet nämlich dann sofort in eine so verzweifelte Angst und weinte so herzzerreissend, dass ich nach einigen Versuchen klein beigab und ein Umhängekörbchen baute, in welchem ich es dauernd bei mir tragen konnte. Schlief das Kind, war es mir wenigstens möglich, mich in der Zwischenzeit frei zu bewegen.

 

 

Es schlief nie lange in einem Zuge durch, was mir während des ersten Tages nicht weiter auffiel. Wohl aber während der Nacht. Für die Nacht hatte ich meinem Gänsekind eine wunderbare elektrisch gewärmte Wiege bereitgestellt, die schon manchen Nestflüchterkindern die wärmende Mutterbrust ersetzt hatte. Als ich ziemlich spät abends meine kleine Martina unter das Wärmekissen schob, sagte sie sofort zufrieden das sehr rasche Wispern, das bei jungen Gänsen Ausdruck der Einschlafstimmung ist und wie „wirrrrrr“ klingt. Ich stellte die Kiste mit der Wärmewiege in eine Ecke des Zimmers und kroch selbst ins Bett. Eben als ich daran war einzuschlafen, hörte ich, wie Martina leise und verschlafen noch einmal „wirrrrrrr“ sagte. Ich rührte mich nicht. Da kam, etwas lauter und wie fragend, der Stimmfühlungslaut: wiwiwiwi? Selma Lagerlöf, deren herrliches Buch vom kleinen Nils Holgerson meine Kindheit so sehr beeinflusst hat, trifft die Bedeutung des Stimmfühlungslautes mit genialer Einfühlung, wenn sie ihn mit „hier bin ich, wo bist du?“ übersetzt. Wiwiwiwiwi? – hier bin ich, wo bist du? Ich antwortete immer noch nicht, wühlte mich tiefer in die Kissen und hoffte inständig, dass das Kind wieder einschlafen würde: aber nein. Wiwiwi – noch Stimmfühlungslaut, jedoch mit einer bedrohlichen Beigabe vom Pfeifen des Verlassenseins, hier bin ich – wo bist du? mit herabgezogenen Mundwinkeln und nach aussen gerollter Unterlippe, das heisst bei der Gans mit lange aufgerichtetem Hälschen und gesträubtem Kopfgefieder. Und im nächsten Augenblick ging es los, scharf und durchdringend: pfühp . . pfühp .. Ich musste heraus aus dem Bett und hinüber zur Kiste. Martina empfing mich beglückt und grüssend: wiwiwiwiwiwi, es wollte kein Ende nehmen vor Erleichterung darüber, dass sie nicht mehr in Nacht und Nebel allein war. Ich schob sie sanft unter das Wärmekissen: wirrrrr, wirrrrr, sie entschlummerte sofort und programmgemäss. Ich tat das gleiche. Aber nach kaum einer Stunde, etwa um halb elf, kam aufs neue das fragende Wiwiwiwiwi, und der eben geschilderte Vorgang wiederholte sich getreulich. Und um vierten vor zwölf noch einmal. Und um ein Uhr wieder. Da raffte ich mich um vierten vor drei zu einer durchgreifenden Veränderung der Versuchsanordnung auf. Ich packte die Wiege und stellte sie in Griffweite neben das Kopfende meines Bettes. Als um halb vier Uhr voraussagegemäss wieder das fragende „hier bin ich – wo bist du?“ kam, antwortete ich in gebrochenem Graugänsisch: gangangang und klopfte ein wenig auf das Heizkissen. Wirrrrr, sagte Martina, ich schlafe schon, gute Nacht. Ich habe es bald gelernt, ohne aufzuwachen, gangangang zu sagen. Ich glaube, ich würde heute noch so antworten, wenn ich fest schlafe und jemand sagt leise zu mir: wiwiwiwi?

 

Am frühen Morgen allerdings, als es hell wurde, nützte auch mein Gangangang und Beklopfen des Kissens nichts mehr. Martina merkte bei Tageslicht, dass das Kissen nicht ich sei, wollte zu mir und weinte. Was tun, wenn das reizende, heissgeliebte Menschenkindchen um halb fünf Uhr plärrt? Ganz richtig, du holst es mit einem Griff zu dir ins Bett mit der leisen Bitte zum Himmel, der Engel da möge wenigstens noch eine Viertelstunde ruhig weiterschlafen. Und er tut es auch. Und du schläfst geniesserisch wieder ein und schlummerst, bis, ja bis es an deiner Seite feucht und kühl wird ... Diese nachteiligen Folgen traten bei meiner kleinen Martina nie ein. Solange eine junge Gans sich nämlich im Seelenzustand des „Bei-der-Mutter-untergekrochen-Seins“ befindet, ist sie verlässlich zimmerrein. Wacht sie jedoch auf und will aufstehen, dann muss man sie allerdings schleunigst aus dem Bett entfernen.

 

Martina war überhaupt ein wunderbar braves Kind. Dass sie nicht einen Augenblick allein sein konnte, war nicht Eigensinn. Man muss bedenken, dass es für einen derartigen Jungvogel normalerweise in freier Wildbahn den sicheren Tod bedeutet, wenn er Mutter und Geschwister verliert. Es ist biologisch sinnvoll, dass ein solches verlorenes Schäfchen weder an Essen noch an Trinken oder Schlafen denkt, sondern jeden Funken Energie, bis zur völligen Erschöpfung, für Hilferufe aufwendet, die es vielleicht die Mutter wiederfinden lässt.

 

Hat man mehrere junge Wildgänse, die aneinander einen gewissen Anschluss haben, so gelingt es bei einiger Strenge, sie allmählich ans Alleinsein zu gewöhnen. Ein einzelnes.Tier dagegen würde sich buchstäblich zu Tode weinen.

 

Diese tief instinktive Abneigung gegen das Alleinsein band Martina fest an meine Person. Martina folgte mir überallhin und war vollkommen zufrieden, wenn ich am Schreibtisch arbeitete und sie sich unter meinen Sessel legen durfte. Sie war gar nicht lästig; es genügte ihr, wenn ich mit einem unartikulierten Grunzen antwortete, sooft sie mit ihrem Stimmfühlungslaut anfragte, ob ich noch da und am Leben sei. Am Tage tat sie das alle paar Minuten, nachts etwa jede Stunde. Ich möchte den Menschen kennen -, oder besser, ich möchte ihn nicht kennenlernen, den die Anhänglichkeit eines derartigen Gänsekindes nicht entzückte und rührte: wie solch ein lebendiges Riesen-Salweidekätzchen gemessenen Schrittes, mit der allen Gänsen eigenen drolligen Würde hinter dir herwandelt, oder, gehst du zu schnell, angestrengt und mit weit ausgebreiteten Flügelärmchen nachgerannt kommt. Rührend, wenn auch zugleich nervensägend wie das „Rabäääh“ des menschlichen Säuglings, hatte ich meinem Gänsekind eine wunderbare elektrisch gewärmte Wiege bereitgestellt, die schon manchen Nestflüchterkindern die wärmende Mutterbrust ersetzt hatte. Als ich ziemlich spät abends meine kleine Martina unter das Wärmekissen schob, sagte sie sofort zufrieden das sehr rasche Wispern, das bei jungen Gänsen Ausdruck der Einschlafstimmung ist und wie „wirrrrrr“ klingt. Ich stellte die Kiste mit der Wärmewiege in eine Ecke des Zimmers und kroch selbst ins Bett. Eben als ich daran war einzuschlafen, hörte ich, wie Martina leise und verschlafen noch einmal „wirrrrrrr“ sagte. Ich rührte mich nicht. Da kam, etwas lauter und wie fragend, der Stimmfühlungslaut: wiwiwiwi? Selma Lagerlöf, deren herrliches Buch vom kleinen Nils Holgerson meine Kindheit so sehr beeinflusst hat, trifft die Bedeutung des Stimmfühlungslautes mit genialer Einfühlung, wenn sie ihn mit „hier bin ich, wo bist du?“ übersetzt. Wiwiwiwiwi? – hier bin ich, wo bist du? Ich antwortete immer noch nicht, wühlte mich tiefer in die Kissen und hoffte inständig, dass das Kind wieder einschlafen würde: aber nein. Wiwiwi – noch Stimmfühlungslaut, jedoch mit einer bedrohlichen Beigabe vom Pfeifen des Verlassenseins, hier bin ich – wo bist du? mit herabgezogenen Mundwinkeln und nach aussen gerollter Unterlippe, das heisst bei der Gans mit lange aufgerichtetem Hälschen und gesträubtem Kopfgefieder. Und im nächsten Augenblick ging es los, scharf und durchdringend: pfühp . . pfühp . . Ich musste heraus aus dem Bett und hinüber zur Kiste. Martina empfing mich beglückt und grüssend: wiwiwiwiwiwi, es wollte kein Ende nehmen vor Erleichterung darüber, dass sie nicht mehr in Nacht und Nebel allein war. Ich schob sie sanft unter das Wärmekissen: wirrrrr, wirrrrr, sie entschlummerte sofort und programmgemäss. Ich tat das gleiche. Aber nach kaum einer Stunde, etwa um halb elf, kam aufs neue das fragende Wiwiwiwiwi, und der eben geschilderte Vorgang wiederholte sich getreulich. Und um vierten vor zwölf noch einmal. Und um ein Uhr wieder. Da raffte ich mich um vierter vor drei zu einer durchgreifenden Veränderung der Versuchsanordnung auf. Ich packte die Wiege und stellte sie in Griffweite neben das Kopfende meines Bettes. Als um halb vier Uhr voraussagegemäss wieder das fragende „hier bin ich – wo bist du?“ kam, antwortete ich in gebrochenem Graugänsisch: gangangang und klopfte ein wenig auf das Heizkissen. Wirrrrr, sagte Martina, ich schlafe schon, gute Nacht. Ich habe es bald gelernt, ohne aufzuwachen, gangangang zu sagen. Ich glaube, ich würde heute noch so antworten, wenn ich fest schlafe und jemand sagt leise zu mir: wiwiwiwi?

 

Am frühen Morgen allerdings, als es heil wurde, nützte auch mein Gangangang und Beklopfen des Kissens nichts mehr. Martina merkte bei Tageslicht, dass das Kissen nicht ich sei, wollte zu mir und weinte. Was tun, wenn das reizende, heissgeliebte Menschenkindchen um halb fünf Uhr plärrt? Ganz richtig, du holst es mit einem Griff zu dir ins Bett mit der leisen Bitte zum Himmel, der Engel da möge wenigstens noch eine Viertelstunde ruhig weiterschlafen. Und er tut es auch. Und du schläfst geniesserisch wieder ein und schlummerst, bis, ja bis es an deiner Seite feucht und kühl wird ... Diese nachteiligen Folgen traten bei meiner kleinen Martina nie ein. Solange eine junge Gans sich nämlich im Seelenzustand des „Bei-der-Mutter-untergekrochen-Seins“ befindet, ist sie verlässlich zimmerrein. Wacht sie jedoch auf und will aufstehen, dann muss man sie allerdings schleunigst aus dem Bett entfernen.

 

Martina war Oberhaupt ein wunderbar braves Kind. Dass sie nicht einen Augenblick allein sein konnte, war nicht Eigensinn. Man muss bedenken, dass es für einen derartigen Jungvogel normalerweise in freier Wildbahn den sicheren Tod bedeutet, wenn er Mutter und Geschwister verliert. Es ist biologisch sinnvoll, dass ein solches verlorenes Schäfchen weder an Essen noch an Trinken oder Schlafen denkt, sondern jeden Funken Energie, bis zur völligen Erschöpfung, für Hilferufe aufwendet, die es vielleicht die Mutter wiederfinden lässt.

 

Hat man mehrere junge Wildgänse, die aneinander einen gewissen Anschluss haben, so gelingt es bei einiger Strenge, sie allmählich ans Alleinsein zu gewöhnen. Ein einzelnes Tier dagegen würde sich buchstäblich zu Tode weinen.

 

Diese tief instinktive Abneigung gegen das Alleinsein band Martina fest an meine Person. Martina folgte mir überallhin und war vollkommen zufrieden, wenn ich am Schreibtisch arbeitete und sie sich unter meinen Sessel legen durfte. Sie war gar nicht lästig; es genügte ihr, wenn ich mit einem unartikulierten Grunzen antwortete, sooft sie mit ihrem Stimmfühlungslaut anfragte, ob ich noch da und am Leben sei. Am Tage tat sie das alle paar Minuten, nachts etwa jede Stunde. Ich möchte den Menschen kennen -, oder besser, ich möchte ihn nicht kennenlernen, den die Anhänglichkeit eines derartigen Gänsekindes nicht entzückte und rührte: wie solch ein lebendiges Riesen-Salweidekätzchen gemessenen Schrittes, mit der allen Gänsen eigenen drolligen Würde hinter dir herwandelt, oder, gehst du zu schnell, angestrengt und mit weit ausgebreiteten Flügelärmchen nachgerannt kommt. Rührend, wenn auch zugleich nervensägend wie das „Rabäääh“ des menschlichen Säuglings, ist das Pfeifen des Verlassenseins, das sofort ertönt, gehst du auch nur einen Augenblick aus dem Zimmer; noch rührender und ohne Nervensäge, die aufgeregte Freude, erscheinst du wieder, die intensive Begrüssung, die nicht enden will. Das Schönste an der zärtlichen Anhänglichkeit eines Gänsekindes aber ist, dass man mit dem Tier ins Freie gehen kann und in völlig natürlicher Umgebung und dennoch in engstem Kontakt mit dem wilden, undomestizierten Lebewesen zusammen sein und es beobachten kann.

 

Da ich Martina zuliebe ja sowieso Gänsemutter spielen musste, versuchte ich erst gar nicht, die weiteren neun Gänschen, die innerhalb der beiden folgenden Tage unter der Truthenne schlüpften, der Hausgans unterzuschieben, wie ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Zehn kleine Graugänse verlangen nicht mehr, sondern weniger Zeit vom Pfleger als eine einzelne, und zwar deshalb, weil es bei ihnen weniger kritisch ist, sie allein zu lassen.

 

Merkwürdigerweise fand Martina an diese Neun keinen geschwisterlichen Anschluss, obwohl sie untertags, vor allem auf gemeinsamen Spaziergängen, viel mit ihnen zusammenkam. Sie wurde zwar von diesen Gänschen nach anfänglichen Kämpfen als Geschwisterchen betrachtet, machte sich aber ihrerseits wenig aus ihnen, vermisste sie jedenfalls in keiner Weise, wenn sie nicht da waren, und fand sich jederzeit bereit, mit mir allein von den anderen fortzugehen. Obwohl die Neun, genau wie Martina, mich als Gänsemutter betrachteten, hielten sie untereinander ebenso fest zusammen, wie sie an meine Person gebunden waren. Das heisst, sie waren nur glücklich und ruhig, wenn sie erstens untereinander und zweitens mit mir beisammen waren. Anfangs versuchte ich, nur zwei oder drei von ihnen zusätzlich zu Martina auf meine Spaziergänge mitzunehmen. Da ich zu rascherer Oberwindung weiterer Strecken, beispielsweise der Dorfstrasse, die zur Donau führt, die Gänschen einfach in einen Korb steckte und so mittrug, und da ausserdem für die beabsichtigten Beobachtungen drei oder vier Tiere völlig ausreichten, wäre es mir willkommen gewesen, die Mehrzahl der Kinder daheimlassen zu können. Das war aber nicht möglich, da eine solche, von der Geschwisterschar getrennte Minderheit dauernd unruhig und ängstlich war, trotz meiner Anwesenheit immer etwas zum Pfeifen des Verlassenseins neigte, immer wieder stehenblieb und nicht recht mitkommen wollte. Diese Reaktion auf das Fehlen von Geschwistern war weniger persönlich als mengenmässig. Nahm ich die Mehrzahl mit und liess nur zwei oder drei zu Hause, so folgten sie anstandslos und waren ruhig. Aber dann weinten sich daheim die Zurückgelassenen halb zu Tode. Ich musste also auf meine Ausflüge entweder Martina allein oder alle zehn Gänsekinder mitnehmen. Als ich im übernächsten Jahr wieder eine Kükenschar zahm aufzog, nahm ich, gewitzigt, von Anfang an nur vier Kinder in meine Obhut.

 

Unglaublich viel Zeit habe ich in jenem ersten Gänsesommer mit meinen zehn Kindern verbracht, und unglaublich viel habe ich von ihnen gelernt. Glückliche Wissenschaft, in der ein wesentlicher Teil der Forschung darin besteht, dass man nackt und wild in Gesellschaft einer Schar Wildgänse in den Donau-Auen herumkriecht und schwimmt. Ich bin ein sehr fauler Mensch, so faul, dass ich ein viel besserer Beobachter als Experimentator bin. Wirklich arbeite ich eigentlich nur unter dem Zwange schwerster kantischer kategorischer Imperative, durchaus entgegen meiner natürlichen Neigung. Das Herrliche an einem solchen rein beobachtenden Leben und Arbeiten mit wildlebenden Tieren ist, dass die Tiere selbst so wundervoll faul sind. Die blödsinnige Arbeitshast des modernen Zivilisationsmenschen, dem sogar die Zeit fehlt, eine wirkliche Kultur zu haben, ist dem Tiere völlig fremd. Selbst Biene und Ameise, diese Sinnbilder des Fleisses, verbringen den weitaus grössten Teil des Tages in dolce far niente, nur sieht man sie dann nicht, diese Heuchler, weil sie in ihrem Bau sitzen, sobald sie nicht an der Arbeit sind. Und Tiere lassen sich nicht drängen. Will man Wildgänse kennenlernen, muss man mit ihnen leben, und will man mit ihnen leben, muss man sich ihrem Lebenstempo anpassen. Ein Mensch, der nicht von Natur mit einer gottgewollten Faulheit ausgestattet ist, kann das gar nicht. Ein konstitutionell tätiger, fleissiger Mensch würde wahnsinnig werden, mutete man ihm zu, einen Sommer lang als Gans unter Gänsen zu leben, wie ich es (mit Unterbrechungen) getan habe. Mindestens die Hälfte des Tages liegen die Wildgänse still und verdauen. Von der anderen Hälfte brauchen sie zum Weiden, gering gerechnet, drei Viertel. Die zwischen Perioden des Weidens und Verdauens eingestreuten Zeiten jener Tätigkeiten, auf deren Beobachtung es ankommt, machen zusammengerechnet höchstens ein Achtel der wach verbrachten Tageszeit aus. Wildgänse wären stinklangweilige Viecher, wenn das, was sie in diesem einen Achtel des Tages tun, nicht so interessant wäre.

 

Wenn du dich mit einer Schar Wildgänse in den Donau-Auen herumtreibst, kannst du mit bestem Gewissen faulenzen, denn du bist ja gezwungen, sieben Achtel des Tages in der Sonne zu liegen, zwar mit griffbereiter, geladener und aufgezogener Kamera, aber keineswegs dazu genötigt, dauernd auf die Vögel aufzupassen; denn das geschulte Ohr hört ja sofort an ihren Stimmäusserungen, wenn die Tiere zu schlafen oder zu weiden aufhören und sich interessanteren Dingen zuwenden. Man kann selbstverständlich, solange die Gänschen noch klein sind und fest und ängstlich einem anhängen, ganz einfach lockend weggehen und sie zwingen, nachzukommen. Man kann auch, kennt man die Ausdruckslaute der Graugans und versteht man einigermassen, sie nachzuahmen, eine Schar erwachsener Gänse, die nicht mehr so unbedingt an einem kleben, dazu veranlassen, vom Orte wegzugehen, aufzufliegen oder sonst allerlei zu tun. Aber man muss mit solchen Beeinflussungen vorsichtig und sparsam sein und darf nicht sehr viel über das hinausgehen, was führende Gänseeltern in dieser Hinsicht tun. Kleine Gänsekinder sind körperlich, aber auch seelisch bald überanstrengt, lässt man ihnen nicht genügend Ruhe. Meine Martina habe ich zweifellos während der ersten Tage ihres Lebens erheblich überbeansprucht, sie blieb deshalb im Wachstum ein wenig zurück, wurde mager und nervös. Grössere junge Gänse, bei denen die Furcht vor dem Alleinsein etwas abgenommen hat, lassen sich einfach in dieser Weise nicht drängen, sie bleiben dann zurück und beginnen zu weiden. Trotzdem muss man auch bei ihnen mit allen Versuchen stimmlicher oder sonstiger Beeinflussung sparsam sein, vor allem auch deshalb, weil man andernfalls gerade die Reaktionen abstumpft und verwischt, die man untersuchen will. Dafür ein Beispiel. Die Gänse reagieren angeborenermassen auf den Ausdruckslaut der Eltern oder sonstiger Artgenossen, der die Absicht, den Ort zu ändern, anzeigt. Diese Stimmäusserung kann der menschliche Pfleger gut nachahmen und so die Gänse veranlassen, ihm zu folgen. Tut er dies aber zu oft, das heisst wesentlich öfter als gerade dieser Vorgang der Stimmungs-Übertragung im Gänseleben normalerweise vorkommt, so ermüdet er die Reaktion. Das hat zur Folge, dass die Tiere auf die betreffende Lautäusserung nicht mehr achten. Er vernichtet also durch negative Dressur, durch sogenanntes „Abdressieren“, gerade jene ererbte, angebotene Reaktionsweise, die er untersuchen will. Um diesen Fehler zu vermeiden, muss man jedoch tatsächlich das besitzen, was man mit Recht eine Viechsgeduld nennt.

 

Besonders interessant sind die Lautäusserungen, die bei der Graugans die Stimmung des Weggehens, -schwimmens und -fliegens ausdrucken. Schon die ganz kleinen Gänsekinder reagieren angeborenermassen auf die feinsten Nuancen dieses recht komplizierten Vokabulariums. Der gewöhnliche Stimmfühlungslaut, das bekannte leise und rasche Gänseschnattern, ertönt auch dann von Zeit zu Zeit, wenn die Tiere in Ruhe sind, wenn sie weiden oder langsam dahinschreiten. Es klingt wegen der starken Obertöne, die mitschwingen, eigenartig gebrochen und sechs- bis zehnsilbig. Silbenzahl und Stärke der hohen Obertöne sind beim gewöhnlichen Stimmfühlungslaut einander parallel, stehen noch in umgekehrtem Verhältnis zur Lautstärke. Je mehrsilben dasgegacker hat, desto höher und leiser klingt es. Sind nun diese drei Merkmale stark ausgeprägt, bedeutet das höchste Behaglichkeit, die Tiere haben also keine Neigung, nächstens den Platz zu verlassen. Vielsilbiges, hohes und leises Gackern heisst also, in menschliche Worte übertragen:

 

Hier ist es gut, lasst uns hier bleiben, mit der Nebenbedeutung der Stimmfühlung: ich bin hier, bist du auch noch hier? In dem Masse nun, in dem die Stimmung zur Ortsveränderung sich in der Gans bemerkbar macht, verändert sich auch der Stimmfühlungslaut, und zwar so, dass die Silbenzahl sinkt, die hohen Obertöne schwinden und das Schnattern lauter wird. Ein sechssilbiges Gackern entspricht schon einem langsamen, aber stetigen Vorwärtsschreiten, etwa wenn die Tiere auf dürftiger Weide von Halm zu Halm einen oder zwei Schritte zurücklegen müssen. Bei Fünfsilbigkeit herrscht schon ausgesprochene Marschstimmung, selten wird noch ein Hälmchen aufgenommen, die Tiere denken hauptsächlich daran, vorwärts zu kommen. Viersilbigkeit zeigt schon ein starkes Motiv zur Ortsveränderung an, die Gans macht in diesem Falle so gut wie immer gespannt einen langen Hals. Dreisilbigkeit bedeutet schleunigstes Marschtempo, der Hals ist extrem lang, es kündigt sich bereits das Aufkommen der Flugstimmung an. Ein zweisilbiger, stets sehr tief und laut klingender Stimmungsfühlungslaut „gangang, gangang“ bedeutet unmissverständlich, dass die Gans im nächsten Augenblick auffliegen wird.

 

Liegt keine Flugstimmung vor, sondern wird die Gans die beabsichtigte Ortsveränderung gehend oder schwimmend vornehmen, so steht ihr eine besondere Lautäusserung zur Verfügung, die eben dies und nichts anderes ausdrückt. Ungefähr zwischen drei- und viersilbigem Gackern, gerade dort, wo andernfalls der Verdacht auf Flugstimmung erregt werden könnte, sagt die Gans dann einen lauten, scharf abgesetzten, metallisch klingenden, dreisilbigen Ruf, dessen stark betonte Mittelsilbe etwa um sechs ganze Töne höher liegt als die beiden anderen, also etwa: gangingang. Führende Eltern, deren Junge noch nicht flugfähig sind, kommen begreiflicherweise besonders häufig in eine Stimmung zur Ortsveränderung mit Betonung der Absicht, nicht zu fliegen. Von Hausgänsen, die Junge führen, hört man diesen Ruf besonders oft, was auf den Kenner immer etwas komisch wirkt, da diese dicken Gesellen ja ohnedies kaum fliegen können, weshalb ihre ständigen „Beteuerungen“, sie werden die beabsichtigte Ortsveränderung zu Fuss, und nicht fliegend, vornehmen, völlig überflüssig sind. Da aber all diese Stimmungsäusserungen rein triebhaft und ererbt sind, haben die Tiere selbstverständlich hiervon keine Ahnung.

Ebenso ererbt und angeboren ist, wie schon erwähnt, jeder kleinen Graugans das „instinktmässige“ Verstehen dieses ganzen Vokabulariums der Stimmfühlung. Schon die ein- oder zweitägigen Kinder reagieren prompt auf alle beschriebenen Feinheiten. Lässt man seinen Stimmfühlungslaut wenigersilbig und schärfer werden, hören die Kinder auf zu weiden, heben das Köpfchen, langsam gerät die ganze Schar in „Fortgehstimmung“ und beginnt vorwärts zu strömen.

 

Besonders hübsch und bei sparsamem Gebrauch immer wieder gut zu demonstrieren ist die Reaktion der Gänsekinder auf das „Gangingang“. Interessanterweise scheinen die Gänschen diese Lautäusserung der Elterntiere vor allem dann „auf sich zu beziehen“, wenn sie, etwa verlockt von einer besonders wohlschmeckenden Weidepflanze, auf dem Marsche zurückgeblieben sind. In solchen Fällen trifft sie das „Gangingang“ wie ein Peitschenschlag, und sie kommen im Höchsttempo mit ausgestreckten Flügelärmchen hinter den Eltern oder dem menschlichen Elternersatz hergestürmt. Diese Reaktion gab bei meiner kleinen Martina die Möglichkeit zu einem netten kleinen Schwindel.

 

Obwohl ihr Name Martina ursprünglich nicht vom Lock- oder Stimmfühlungslaut der Art abgeleitet war, so hatten wir doch für Martina den schönsten Lockruf-Namen getroffen, den je ein Vogel bei uns in Altenberg getragen hat: wenn man nämlich ihren Namen in der Klangfarbe und absoluten Tonhöhe des graugänsischen „Gangingang“ und mit scharfer Betonung auf dem i ausrief, so löste man mit Sicherheit die beschriebene Reaktion aus, und Martina kam wie ein angesporntes Pferd angesaust. Vornehmlich Jäger und sonstige Hundekenner konnte ich mit dem „Appell“, den ich der kaum eine Woche alten kleinen Gans beigebracht hatte, verblüffen. Nur musste ich dann scharf aufpassen, dass keine meiner anderen, „undressierten“ Gänschen in Hörweite waren, sonst kamen diese, als hätte man auf einen elektrischen Knopf gedrückt, ebenfalls angebraust.

 

Wie die sinnvolle Antwort auf alle Variationen des Stimmfühlungslautes ist dem Gänsekind auch die Reaktion auf den Warnlaut der alten Gänse angeboren. Dieser besteht aus einem einzelnen, meist ziemlich leise und nasal gerufenen „Gang“, in dem etwas von einem R mitschwingt, so dass man vielleicht den Laut in Buchstaben am besten mit „Ran“ ausdrückt. Den heiser klingenden Laut ahmt man am wirkungsvollsten nach, indem man die Silbe ausspricht, während man dabei die Luft einzieht. Auf diesen Laut fahren alle Gänseköpfe sichernd in die Höhe, und das sonst fast ununterbrochen ertönende Stimmfühlungsgackern schweigt schlagartig. Sagt man den Ton lauter, so geraten die erwachsenen Gänse in Abflugstimmung und suchen einen Ort zu gewinnen, von dem aus sie einen freien Rundblick haben und leicht auffliegen können. Kleine Gänsekinder aber eilen schleunigst zur Mutter oder zum menschlichen Elternersatz und drängen sich in ihrem oder seinem Schutze zu dichten Häuflein zusammen.

 

Die ängstliche Stimmung hält bei den Kindern so lange vor, bis entwarnt wird. Die Gänseeltern brauchen also nicht ein zweites Mal zu warnen, um ihre Kinder still und in Alarmbereitschaft zu erhalten, sondern können sich mit gespannten Sinnen auf die Gefahr konzentrieren. Ist diese vorüber, so erfolgt die Entwarnung durch ein leises Stimmfühlungsgackern, worauf die Kinderschar regelmässig in eine Begrüssungszeremonie mit vorgestrecktem Halse ausbricht.

 

So schnell, wie aus dem Frühling der Sommer wird, wird aus der liebenswerten Daunenkugel der schöne graue Vogel mit den silbernen Schwingen. Wie reizvoll der Obergang von einem zum anderen, wie rührend die unharmonischen Zwischenformen zwischen dem Kind und dem Jüngling, die zu grossen Füsse, die dicken Gelenke und die täppischen Bewegungen der Flegeljahre, die bei der Graugans allerdings auf wenige „Flegelwochen“ zusammengedrängt sind! Und wie wundervoll ist der Augenblick, wenn die neue Harmonie des erwachsenen Vogels erreicht ist, wenn die Schwingen erstarkt und imstande sind, sich zum ersten Flug zu entfalten.

 

 

 

 

SCAN AUS «ER REDETE MIT DEM DEM VIEH, DEN VOEGELN UND DEN FISCHEN» VON KONRAD LORENZ,

BUCHCLUB EX LIBRIS ZÜRICH

 

In Erinnerung an meinen Sekundarlehrer Werner Heim, Biologieunterricht-Pionier, der uns vor über 50 Jahren begeistert aus diesem Buch vorlas, vermutlich ohne zu ahnen, dass Lorenz wegen seiner (angeblichen?) Nähe zum Nationalsozialismus später umstritten sein würde. Mir ging es übrigens lange auch nicht besser.